Latein als Schulfach gewählt? Zu Risiken und Nebenwirkungen dieser Entscheidung.
„ K ö n n e n S i e T a c i t u s > l e s e n <. w i e T h o m a s M a n n “ ? Junge Menschen fragen spontan und ehrlich und sie treffen dabei oft den Nerv der Dinge.
Meine ebenso ehrliche Antwort: Nein! Dieses Latein der überlieferten Texte, die im Mittelpunkt des Lateinunterrichts in der Schule stehen, wenn man sie vorgelesen hört oder auch dann, wenn man sie gedruckt liest, kann kein deutscher Schüler mit seinem angeborenen deutschen Sprachgefühl, mag er auch noch so intelligent sein, problemlos spontan unmittelbar direkt verstehen. Auch ein Lateinlehrer, selbst ein sehr guter, und selbst ein Universitätsprofessor für Latein wird, wenn er ehrlich ist, zugeben, dass selbst er dazu nicht oder doch nur sehr begrenzt in der Lage ist, und wenn überhaupt, dann nur, indem er dabei immer wieder von ständigen Frustrationen, also Misserfolgserlebnissen begleitet, ja geplagt wird.
Der Grund für diese von Lateinlehrern gern verschämt verschwiegene Realität liegt nicht in einer mangelhaften Sprachkompetenz des Betroffenen, sondern ergibt sich aus der Struktur dieses Kunstgebildes Latein der überlieferten Texte, das im Schulfach Latein gelernt wird.
Den Zugang zu den Aussagen dieser Texte kann man nur in einem konzentrierten Arbeitsprozess gewinnen, den man Ü b e r s e t z u n g nennt.
Wer Latein erfolgreich erlernen will, muss sich vom ersten Schritt an bewusst machen, dass und inwiefern das System der Formengebung bei Substantiven, Adjektiven und Verben und das System der Satz-Bausteine im Lateinischen anders ist als im Deutschen, Englischen oder Französischen.
Immer wieder muss der Lernende der Versuchung widerstehen, mit seinem von seiner Muttersprache Deutsch geprägten Sprachgefühl an einen lateinischen Satz heran zu gehen. Er muss zuallererst und jedes Mal neu einen lateinischen Satz rational und handwerklich aufschlüsseln mit dem Werkzeug des typisch lateinischen Systems der Formengebung von Einzelwörtern und mit dem Werkzeug des Systems der typisch lateinischen Satz-Bausteine, die es so nur im Lateinischen gibt.
Wer als Deutsch Sprechender einen lateinischen Satz erfassen, „auf Deutsch“ verstehen und ins Deutsche übersetzen will, muss sorgfältig und genau beobachten, treffsicher kombinieren, behutsam nachdenken.
Er muss sich immer wieder neu ins Bewusstsein rufen, was typisch lateinisch ist und wie diese typisch lateinischen Wortformen und Satzbausteine in die deutsche Sprachform zu übertragen sind. Für diese typisch lateinische Formgebung der einzelnen Wörter und diese typisch lateinischen Bausteine eines Satzes muss ich meinen Blick schärfen.
Ich muss lateinisch denken, nicht deutsch denken, wenn ich einen lateinischen Satz lese. Ich muss im Stadium der Entschlüsselung des Lateinischen Textes zuallererst und von Grund auf mein von meiner Muttersprache geprägtes Sprachgefühl und mein angeborenes Sprachdenkmuster total ausschalten, bevor ich es später im Stadium der Übertragung ins Deutsche wieder einschalte.
Eine Umsetzung 1 zu 1 vom Lateinischen ins Deutsche ist nicht möglich. Jeder Versuch dazu ist tabu. Er wird scheitern.
Diese Anstrengung ist des Schweißes der Besten wert, sie kann aber auch von einem Otto Normalverbraucher unter den Schülern durchaus geleistet werden, aber in einem ganz anderen Verfahren und unter ganz anderen Spielregeln, als wenn es um einen englischen, französischen oder spanischen Text geht.
Diese Anforderungen des Lateinunterrichts erfolgreich zu erfüllen, ist an sich nicht schwerer als eine moderne Sprache zu erlernen, nur sind diese Anforderungen sehr viel anders als bei einer modernen europäischen Fremdsprache.
Vielleicht ist Latein für viele Schülerinnen und Schüler sogar etwas leichter. Warum leichter? Deshalb leichter, weil ich – wenn ich einmal die Systematik des Lateinischen begriffen habe, mich darauf eingestellt und sie gelernt habe – ich danach, mit diesem angeeigneten Grundwissen und einem lateinisch-deutschen Wörterbuch zur Hand, ohne übermäßige Anstrengung und Lernbelastung in diesem Schulfach, das auf eine Übersetzung und eine Interpretation von vorgelegten Texten ausgerichtet ist, erfolgreich sein kann bis zum Abitur.
S c h r i t t 1 : Latein – was ist das? Die Geschichte einer Sprache in Europa.
Lateinisch wurde im Anfang, vor 2600 Jahren, in einem Gebiet gesprochen, das nicht größer war als der Rhein-Neckar-Kreis oder der Wartburg-Kreis; es lag in Italien am Fluss Tiber und hieß Latium, die Einwohner hießen Latiner (Latini), die Stadt hieß Rom (Roma), deren Einwohner Römer (Romani). Hier wurde zuerst „lateinisch“ gesprochen (lingua Latina) und geschrieben (Latinum).
Im Laufe der Jahrhunderte wurde dann Rom zum Mittelpunkt eines riesigen Staates rund um das Mittelmeer, der sich „Imperium Romanum“– Römisches Reich“ nannte. In diesem Staat, der von Britannien bis ans Schwarze Meer, von Spanien bis an die Grenze zu Indien, von Nordafrika über Ägypten bis Jerusalem reichte, wurden in den verschiedenen Ländern auch viele verschiedene Sprachen gesprochen; aber „das Lateinische“ wurde überall die Amtssprache und die Sprache der Gebildeten, also die Schriftsprache. Wissenschaft, Rechtswesen, Geschichtsschreibung, Philosophie, Dichtung – hier wurde alles auf Lateinisch verfasst. Latein war von da an nicht (mehr) die Sprache eines einzelnen Volkes (Nationalsprache), sondern die Sprache einer völkerübergreifenden Kultur‑ und Rechts-Gemeinschaft, zuerst tausend Jahre lang, von 500 vor bis 500 nach Christi Geburt, im Römischen Reich (Imperium Romanum), danach für weitere tausend Jahre im so genannten „Heiligen Römischen Reich“. Fast 2000 Jahre lang war dieses Latein also in Europa die einheitliche Schriftsprache der Gebildeten und der Herrschenden aus den verschiedensten Stämmen und Völkern, in der alle wichtigen Schriften und alle wichtigen Verträge abgefasst wurden. Das Schriftbild, die Lautbildung, die grammatischen Formen und die Grundregeln des Satzbaues sind in dieser Zeit nahezu unverändert dieselben geblieben, eine Aufspaltung in Dialekte hat es nicht gegeben.
Es ist äußerst fraglich, ob dieses Latein jemals eine lebendige „Umgangsssprache“ gewesen ist.
„Unten im Volk“, also im normalen Leben, auf den Straßen und Gassen, in den Familien, in Handel, Handwerk und Gewerbe, im politischen Tageskampf, beim Militär und in den Legionen, hier wurde in den verschiedenen Ländern dieses Riesenreiches natürlich weiterhin die dort übliche „Volkssprache“ gesprochen. Aber nach und nach übernahmen auch diese Regionalsprachen viele Bausteine des Lateinischen (Wörter und Begriffe, Redewendungen, Grammatik und Satzbau), besonders dann, als das Deutsche, das Englische, das Französische, das Spanische, das Italienische zu eigenständigen „Nationalsprachen“ erhoben wurden.
Das Latein aber, das zwar ursprünglich durchaus auch eine normale Umgangssprache gewesen sein mag, hat sich im Laufe dieser Geschichte zu einer reinen Schrift- und Amtssprache entwickelt, zu einer Art Kultsprache der Wissenschaft, des Rechtswesens, der Philosophie, der Geschichtsschreibung und der Dichtung, wie ein Kunstwerk aus Marmor, Stein oder Bronze. Die Texte, die uns in diesem Latein überliefert sind, sind Kunstwerke aus Sprache, geschaffen, um ewig zu gelten und dem Autor zeitlosen Ruhm zu bereiten, nicht, um von Jedermann spontan verstanden zu werden.
>Exegi monumentum aere perennius regalique situ pyramidum altius< Ich habe geschaffen ein Kunstwerk, (das) dauerhafter (ist) als Bronze und höher als die königliche Anlage der Pyramiden. >Odi profanum volgus et arceo<. Ich verachte das gemeine Volk und halte mich fern (von diesem).
Und ja, die elitäre Bildungs- und Herrschaftsschicht im Imperium Romanum und besonders dann später im so genannten Heiligen Römischen Reich, bediente sich in allen Regionen Europas dieser unveränderten und unveränderbaren Sprachplattform, um sich zum Einen von dem „Volk da unten“ abzugrenzen, zum Anderen aber um inmitten von Machtansprüchen, Kämpfen und Kriegen in den vielen Regionen Europas so etwas wie ein gemeinsames Podium, eine überregionale Verständigungsplattform, ja eine über allen Kämpfen und Kriegen fortbestehende europäische Solidarität zu erhalten.
Um 500 nach Christus löste sich das Imperium Romanum auf. In den vielen einzelnen Stämmen, die bis dahin von Rom aus zentral regiert worden waren (>omnes viae Romam ducunt<. Alle Wege führen nach Rom), übernahmen lokale Herrscher die Macht für drei Jahrhunderte, bis im Jahr 800 nach Christus Karl der Große, der König der Franken, im Petersdom in Rom vom Papst zum „Augustus Kaiser des erneuerten Römischen Reiches“ gekrönt wurde (> Augustus Imperator Renovati Imperii Romani <.), also zum direkten Nachfolger der Römischen Kaiser. Karl nannte sein Reich danach „Sanctus“ (heilig = durch die Kirche legitimiert). Von nun an wurde Latein in der Kirche und im Staat wieder das, was es schon tausend Jahre lang gewesen war: die Schrift- und Amtssprache der Politik und des Rechtswesens, die Kultsprache der Kirche, die Weltsprache der Gebildeten aus Wissenschaft, Rechtswesen, Philosophie, Geschichtsschreibung und Dichtung. Karl der Große hat zwar wichtige Verträge und eine Biographie über sich lateinisch verfassen lassen, aber in diesem Latein hat er sich wohl nicht im Alltag und auf seinen Reisen mit seinen Gesprächspartnern unterhalten.
Erst als in der Neuzeit sich in Europa verschiedene so genannte „Nationalstaaten“ entwickelten, wurde hier auch die jeweilige „Nationalsprache“ die offizielle Amtssprache. Nur im Vatikan, in der Römisch-Katholischen Weltkirche, blieb Latein bis heute die offizielle „Kirchensprache“, auch wenn die Päpste bei ihren Audienzen auf dem Petersplatz Italienisch sprechen und die Bibel-Lesungen und die wesentlichen Aussagen des Papstes immer auch in den wichtigsten Sprachen der heutigen Welt verlesen werden. Aber wenn ein Papst eine Enzyklika verfasst, ist die offizielle Fassung lateinisch.
Aber neben dieser Amts-, Schrift-, Hoch- und Kult-Sprache Latein existierte und entwickelte sich parallel dazu unten im Volk und in den Völkern des Riesenreiches, neben den regionalen Volkssprachen, auch ein Latein als Umgangssprache, aberein ganz anderes Latein als das klassische Latein der verfassten Texte, nämlich das so genannte Vulgärlatein. Unten auf dem Marktplatz tobte das dynamische Geschehen einer sich fort entwickelnden lebendigen Sprache, ständig neuen Einflüssen und Ausdruckstrends ausgesetzt, sich je nach Region und Kultur unablässig verändernd, bis zum Stadium der Weiterentwicklung zu den verschiedenen europäischen Nationalsprachen Französisch, Italienisch, Spanisch, Englisch u. a., welche sozusagen Kinder der Mutter Latein sind. Dieses Vulgärlatein war deren Mutter, nicht das klassische Latein der Texte, die heute auf den Schulen übersetzt werden müssen.
Das Latein der überlieferten Texteist so nie eine normale, gesprochene Sprache gewesen. Auch dieses Latein war Sprache, ja, und in seiner Art auch eine ungeheuer lebendige und dynamische sogar, und doch irgendwie immer nur ein Kunstgebilde aus Sprache.Aber dieses Latein bildet die Grundlage des heutigen Lateinunterrichts an Schulen. Ziel des Unterrichts ist es, diese Texte übersetzen und verstehen zu können.
Und darin liegt das Problem für die Schülerinnen und Schüler, die heute auf der Schule Latein lernen. Die über viele Jahrhunderte überlieferten Texte im so genannten „klassischen Latein“, welche die Grundlage des Lateinunterrichts an den Schulen bilden, wurden nicht verfasst, um spontan unmittelbar direkt von Allen verstanden zu werden; sie sträuben sich daher und sind widerspenstig gegenüber einem schnellen und spontanen Verstehen. Wer versucht, dies dennoch zu tun, wird scheitern. Und wer den Eindruck zu erwecken versucht, dieses klassische Latein der Texte sei „eine ganz normale Sprache“, wie es manche Lateinlehrer leider tun, der erweckt bei vielen Schülerinnen und Schülen, die im Vertrauen darauf Latein als Schulfach wählen, falsche Erwartungen; denn spätestens nach zwei Lehrjahren, wenn diese komplizierten Kunstgebilde aus Sprache zur Übersetzung anstehen, merken sie, dass das da keine „ganz normale Sprache“ wie Deutsch, Englisch, Französisch oder Spanisch ist, und dann ist es für Viele zu spät. Sie resignieren und beginnen Latein zu hassen.
S c h r i t t 2 : Typisch Lateinisch – was ist das? Über die Andersartigkeit des Lateins der überlieferten Texte. Was sind die Kennzeichen des Kunstgebildes Latein? Lateinisch denken (lernen) – wie geht das?
Das Lateinische tickt anders als das Deutsche. In einem lateinischen Satz steht die Wortbedeutung selbst immer an erster, an vorderster Stelle. Der Hinweis darauf, auf welche Frage dieses Wort in einem Satz antwortet, wird an das jeweilige Wort angehängt und nicht, wie im Deutschen, mit einem neuen Wort ausgedrückt und vorangestellt. Man nennt das eine „Endung“ oder nennen wir es modern „ein Microchip am Ende eines Wortes“, der über das „wer“ oder „wen“ oder „wann“ oder „wo“ Auskunft gibt und zwar nicht „von vornherein, vorweg“ wie im Deutschen, sondern „im Nachhinein, hinterher“. Das verlangt vom Leser eines lateinischen Satzes immer einen scharfen Blick und genaue Konzentration.
Also aufgepasst! Das Lateinische tickt ganz anders, denkt ganz anders, funktioniert ganz anders als das Deutsche.
§ 1-4 Substantive und Adjektive
(1) Die Markierung der Satzteilfunktion eines Substantivs oder einer Person (der „Fall“; der „Kasus“).
Im Deutschen: Der vorangestellte Artikel „der,die,das; ein, eine, ein“ wird entsprechend verändert (Nominativ, Akkusativ, Genitiv, Dativ) oder vor den Artikel wird eine Richtung gebende Präposition gesetzt (zum Beispiel „von, durch, mit, in“). Die Markierung erfolgt also von vornherein.
Das Lateinische kennt keinen Artikel. Die Markierung der Satzteilfunktion erfolgt durch „Endungen“, modern ausgedrückt, durch „Mikrochips“ am Ende der Wörter. Entweder ein Vokal oder eine Kombination aus einem Vokal und einem Konsonanten, die dem Wortstamm angehängt werden. Die Markierung erfolgt also im Nachhinein.
(2) Die weitere Möglichkeit, nämlich eine genauere Markierung durch Präpositionen vorzunehmen, gibt es zwar auch im Lateinischen, aber im klassischen Latein ist der Einsatz von Präpositionen auf ein Mindestmaß beschränkt. Stattdessen hat dieses Latein für solche Fälle einen besonderen, fünften Kasus eingerichtet, den so genannten „Ablativ“, der natürlich ebenfalls nur durch eine entsprechende Endung gekennzeichnet ist. Im Deutschen aber müssen wir jeden Ablativ mit einer passenden Präposition übersetzen. Aber auch der Akkusativ und der Dativ füllt in einem lateinischen Satz bisweilen eine Funktion aus, für die wir im Deutschen eine Präposition einsetzen.
(3) Damit aber noch nicht genug. Angesichts der geringen Zahl von Vokalen und dazu passenden Konsonanten, sind mehrere Endungen nicht für sich allein genommen schon eindeutig, sondern nur in Bezug zu der jeweiligen Deklination des Wortes, sie sind also mehrdeutig und erfordern zudem eine treffende Bestimmung in der gegebenen Situation des Wortes im Satzgefüge. Die Endungen –a, -is, -um, -i, -e, -o, -es, -us sind, für sich genommen, noch nicht eindeutig; erst im Rahmen einer Deklination haben sie ihren eindeutigen Stellenwert. Jede Endung muss genau geprüft und mit dem Wort, an dem sie hängt, zusammen gedacht werden.
(4) masculinum, femininum oder neutrum ? Ob ein Substantiv m. – f. – oder n. ist, also „der“– „die“ oder „das“, ist von vornherein dem Wort an sich nicht zu entnehmen, weil das Lateinische keinen entsprechenden vorangestellten Artikel kennt. Aber natürlich ist auch ein lateinisches Substantiv entweder m. oder f. oder n., nur lässt sich das, selbst von der Endung her, nur äußerst schwer erschließen. Entweder man weiß es, hat es so zu sagen im sprachlichen Urin, oder man lernt komplizierte Regeln, mit denen die Sprachwissenschaft den überlieferten Bestand an lateinischen Substantiven mühsam entsprechend aufgearbeitet hat.
Nun ist zunächst freilich allein die Bedeutung des Substantivs wichtig (man sollte daher auch bei einer Übersetzung zunächst auf einen Artikel verzichten und nur das Wort an sich nennen!). Kennen aber muss man das jedem Substantiv innewohnende Geschlecht (lateinisch „das Genus“) dann, wenn man es mit einem Adjektiv verbinden will bzw. wenn es mit einem Adjektiv verbunden ist; denn weil es im Lateinischen Satz keine verbindliche Reihenfolge von Satzteilen gibt (siehe 8), wie sie das Deutsche kennt, ist bisweilen die Zuordnung eines Adjektivs als Attribut zu einem im Satz stehenden Substantiv dann schwierig, wenn im Satz mehrere Substantive vorhanden sind.
§ 5 – 7 Verbformen und typisch lateinische Satzbausteine
(5) Bei Verben erschließt sich die jeweilige Aussageform (Person, Zeit, Aktiv/Passiv) ebenfalls nur durch entsprechende „Mikrochips“, also Kurzkennzeichnungen am Ende der Wörter, nicht dadurch, dass für die jeweilige Person und die Zeit und die Aktiv/Passiv-Form im Satz ein eigenständiges Wort erscheint. Also auch hier im Nachhinein.
(6) Ebenso wie bei Substantiven der Einsatz von Präpositionen minimal ist, so meidet das klassische Lateinische auch konjunktionale und relativische Nebensätze, die durch eine Richtung gebende Konjunktion (als, nachdem, weil, obwohl) oder ein Relativpronomen (welcher, welche, welches; der, die, das) eingeleitet werden. Stattdessen hat das Lateinische eine (fast süchtige) Vorliebe für entsprechende Satzbausteine, die auf der Umformung (Transformation) eines Verbums in eine nominale Form (Adjektivierung, Substantivierung) aufbauen: >Partizip, >Gerundium, >Gerundivum. Als Folge ist, wie bei dem Fehlen von Präpositionen, auch hier durch das Fehlen entsprechender Konjunktionen, der gedankliche Bezug zum Satzganzen nicht von Vornherein gegeben, sondern muss erst im Nachhinein eigenständig vom Leser/Hörer erschlossen (kombiniert) werden.
(7) Während wir im Deutschen immer wieder „dass-Sätze“ benutzen, um mitzuteilen, was jemand gesagt, gedacht oder erkannt hat, drückt das Lateinische das mit einer Infinitiv-Konstruktion aus, dem „AcI“ (Akkusativ mit Infinitiv) oder dem NcI (Nominativ mit Infinitiv). Übersetzen müssen wir das im Deutschen mit einem „Nebensatz mit dass“.
6 und 7 sind Sprachformen, die es so im Deutschen (vielleicht sprachtheoretisch ja, aber tatsächlich im Sprachgebrauch) nicht gibt und die daher im Deutschen ganz anders ausgedrückt werden müssen, eben durch konjunktionale und relativische Nebensätze oder einen „dass“-Satz.
8 Freie, ungeregelte Reihenfolge der Satzteile im Lateinischen
(8) Es gibt im Lateinischen keine vorgeschriebene Reihenfolge der Satzteile. Der Redende, der Schreibende hat die freie Wahl, die Abfolge der Wörter innerhalb eines Satzes so zu setzen, wie er es für sinnvoll hält, damit der Hörende, der Lesende leichter verstehen kann, was er, der Redende/Schreibende sagen will.
So stehen Wörter, die nach deutschem sprachlichem Denkmuster zusammen gehören, oft weit auseinander. Zum Beispiel das Substantiv und das darauf bezogene Adjektiv als Attribut. Schon gar nicht gibt es die im Deutschen selbstverständliche Reihenfolge Subjekt – Prädikat – Objekt (so in Hauptsätzen; in Nebensätzen wiederum Subjekt – Objekt – Prädikat).
S c h r i t t 3 : Wege zu angemessenen, effektiven und fairen Lernbedingungen im Schulfach Latein (1) Das Lernziel in Latein heißt „übersetzen können“!
Wer heute dieses Kunstgebilde Latein, in Versen und in Prosa überliefert, aufschlüsseln, verstehen und in die eigene Sprache übersetzen will, muss, um erfolgreich zu sein, ein hohes Maß an analytischer Bestandsaufnahme, sorgfältiger Beobachtung, logischer Disziplin sowie gedanklicher Sensibilität, Mobilität und Kreativität entwickeln.
Er muss im Stadium der Dechiffrierung des Lateinischen Textes zuallererst und von Grund auf sein von seiner Muttersprache geprägtes Sprachgefühl und sein angeborenes Sprachdenkmuster aufbrechen und total ausschalten, bevor er es später im Stadium der Übersetzung wieder einschaltet.
Immer wieder neu muss er sich geradezu ins Bewusstsein hämmern, was typisch lateinisch ist und wie diese typisch lateinischen Wortformen und Satzbausteine in die deutsche Sprachform zu übertragen sind.
Der Schüler, der heute dieses Latein lernt, steht vor einer Sisyphus-Aufgabe. Dieses heutige Unterrichtsfach stellt an den Lernenden völlig andere Anforderungen als jede andere zu lernende Sprache. Er muss den Spagat zwischen dem angeborenen eigenen Sprachgefühl und der Struktur des Kunstproduktes Latein beharrlich und erfolgreich aushalten.
Diejenigen, die in den Schulabteilungen der Kultusministerien über die Rahmenbedingungen des Lateinunterrichts und die Prüfungsanforderungen entscheiden, sollten ihre entsprechenden Erlasse und Verfügungen formulieren aus einem tiefen Verständnis dafür, welcher Anstrengung es für einen heutigen Schüler bedarf, um sich dieses Latein noch einmal neu anzueignen, und sie sollten ihm dabei faire Chancen einräumen, um diesen Weg auch mit gutem schulischem Erfolg gehen zu können.
(2) Wie viele Vokabeln muss ein Schüler können?
Es ist unverantwortlich, Schüler (heute immer noch) mit einer Vokabel-Lawine „zuzumüllen“, zu überrollen, zu erschlagen, zu demotivieren und letztlich zu (in gewisser Weise verständlichen) lebenslangen Hassern des Faches Latein an der Schule zu machen.
Der Umfang des Wortschatzes (Vokabeln), der bei Klassenarbeiten in der Vor-Oberstufen-Phase (ohne Wörterbuch) bei den Schülern vorausgesetzt wird, darf ein bestimmtes sachlich gebotenes Mindestmaß nicht überschreiten,muss die Ergebnisse der neueren lernpsychologischen Forschung berücksichtigen undmuss berücksichtigen, dass nach Abschluss des Grundkurses über das Lehrbuch mit Beginn der Lektürephase die Benutzung eines lateinisch-deutschen Wörterbuches auch heute schon erlaubt ist.
(3) Plädoyer für den Umgang mit einem Lexikon von Anfang an.
Es sollte ernsthaft darüber nachgedacht werden, ob es nicht sinnvoll ist, bereits von Anfang an im Lateinunterricht unter bestimmten Spielregeln den Gebrauch eines Lateinisch-Deutschen Wörterbuches einzuführen und einzuüben.Und zwar von Anfang an dasjenige Lexikon, das der Lateinlernende bis zum Abitur verwenden wird. Zum Beispiel Langenscheidts Schulwörterbuch Latein. Es muss sich in einer geräumigen Hosentasche verstauen lassen.
(4) Von der ersten Lateinstunde an eine Systemgrammatik einführen!
Und zwar eine handliche, nicht zu umfangreiche, kompakte Grammatik wie zum Beispiel die Pocket Teacher Latein Grammatik des Cornelsen Verlages. Es fördert nicht die Langzeiteffekivität des Lateinunterrichts, wenn die von den Verlagen, Umsatz steigernd, angebotene so genannte Begleitgrammatik in den ersten zwei oder drei Unterrichtsjahren eingesetzt wird und dann plötzlich der Lernende auf eine Systemgrammatik umsteigen muss, die er nicht von Anfang an durchbuchstabiert hat. Sowohl die Grammatik wie auch das Lexikon müssen die Spuren der Arbeit mit ihnen von der ersten Lateinstunde an tragen, sie sind „meine Grammatik“ und „mein Lexikon“, ihnen muss „Stallgeruch“ anhaften. Beide Bücher müssen sich in zwei geräumigen Hosentaschen verstecken lassen und so problemlos mit ins Schwimmbad genommen werden können.
(5) Lernerfolg orientierte Lehrbücher und ihr Umfang
Um erfolgreich zu lernen, was typisch lateinisch ist, und damit in den Stand gesetzt zu werden, einen inhaltlich anspruchsvollen lateinischen Text unter Zuhilfenahme eines Wörterbuches in angemessenes Deutsch zu übertragen, dazu bedarf es nicht voluminöser Lehrbücher, wie sie seit vielen Jahren von Verlagen Umsatz steigernd angeboten werden. Eine Beschränkung auf ein Mindestmaß an Wortschatz, Texten und Lektionen ist angesichts des harten Lernalltags unserer Schülerinnen und Schüler unbedingt geboten.
Die besten Repräsentanten des Faches Latein sind aufgerufen, in diesem Sinne ein Lehrbuch und zugleich eine entsprechende Grammatik und Satzlehre zu verfassen.
(6) Das richtige Layout der lateinischen Textvorlage bei Klassenarbeiten und Klausuren
Der lateinische Text sollte in einem Layout vorgelegt werden, das eine Bearbeitung in den an anderer Stelle von mir aufgelisteten Schritten ermöglicht. Der Schüler muss die faire Möglichkeit haben, sich über und unter dem abgedruckten lateinischen Satz Notizen zu machen zu Wortbedeutung, Kasus, Verbform sowie zu größeren Satzbausteinen. Der vorgelegte Text muss folglich über und unter jeder lateinischen Textzeile jeweils eine Zeile Freiraum zur Verfügung stellen. Sich entsprechende Notizen zu machen in einem einzeilig geschriebenen Text, ist vollkommen unmöglich. In dieser Textgestalt ist am Ende der eigentliche lateinische Text nur noch mit großer Mühe entzifferbar.
(7) Zeit, wesentlich mehr Zeit für Klassenarbeiten und Klausuren einräumen als bisher amtlich zugestanden wird
Das oben beschriebene Verfahren zum richtigen Übersetzen eines Lateinischen Textes erfordert Zeit, viel Zeit, wesentlich mehr Zeit, als bisher in den entsprechenden Verordnungen für Klassenarbeiten und Klausuren vorgesehen ist. Unter Zeitdruck kann keine gute Übersetzung entstehen, zumindest nicht für Normalbegabte.
(8) Von der ersten Lateinstunde an die Andersartigkeit des Lateinischen gegenüber Deutsch und den modernen Fremdsprachen nachhaltig bewusst machen und die entsprechenden Werkzeuge und Verfahren zum sicheren Umgang mit dieser Andersartigkeit konsequent einüben.
Ein allzu oft zu beobachtender Fall: Im ersten und auch noch im zweiten Lateinjahr erreicht ein Schüler die Note gut bis befriedigend. Später, wenn in Klausuren Originaltexte zu übersetzen sind, gerät er in wachsende Probleme bis hin zum Scheitern.
Dieses Phänomen ist nur so zu erklären, dass in den Lehrbüchern Latein zunächst in einer den modernen Sprachen angepassten Form präsentiert wird. Und dann kommt nach und nach der Punkt, dass man auf diesem Weg dem Klassischen Latein der überlieferten klassischen Texte nicht mehr gewachsen ist, die Erfahrung von Misserfolgen führt zu Angst, zu Frust und schließlich zur inneren Emigration.
Und hier noch einmal mein Aufruf zu fairen Lernbedingungen im Schulfach Latein:
Ø Schafft faire Lernbedingungen für diejenigen, die heute noch Latein lernen! Sie verdienen es. Europa ist es ihnen schuldig.
Ø Macht ihnen doch ein erfolgreiches Lateinlernen nicht weiter so schwer, wie es Jahrhunderte davor getan haben!
Ø Betreibt Latein nicht mehr als Pauk- und Auslesefach!
Ø Begreift erst einmal selbst, welcher geistigen Anstrengung es für einen Schüler von heute bedarf, um dieses Kunstprodukt aus Sprache, genannt klassisches Latein, als Sprache zu lernen! Dieses Latein ist nie jemandes Muttersprache gewesen und kann daher auch nicht wie eine moderne europäische Sprache gelernt werden!
Ø Müllt die Lernenden nicht mehr mit Vokabellawinen zu!
Ø Trainiert die Lernenden von der ersten Lateinstunde an, ein lateinich-deutsches Wörterbuch schnell und effektiv zu nutzen!
Ø Führt von der ersten Lateinstunde an eine Systemgrammatik ein, die die Lernenden auch bei Lernkontrollen benutzen dürfen! Das Ziel: Immer wieder zur Hand haben! Immer wieder hineinschauen! Nach und nach im Kopf haben!
Ø Gebt ihnen bei der Übersetzung von lateinischen Texten genügend Zeit! Es ist an der Zeit, die Zeit als Peitsche bei Klassenarbeiten und Klausuren ein für alle Mal zum ächten!